Locker, lässig, leidenschaftlich
Schöppingen - In Frankreich dächten die meisten Menschen, Blues sei langweilig, sagt Iano Giddey am Sonntag ins Mikrofon. Barfuß steht er in seinem schwarzen Nadelstreifenanzug auf der Bühne, die Mundharmonika in der Hand, und zieht die Augenbrauen hoch. Die Zuschauer protestieren lautstark. Wie bitte? Langweilig? Niemals! Sie amüsieren sich prächtig! Iano Giddey grinst seinen Kollegen Mathieu Guillon verschmitzt an. Dann fangen die „Mountain Men“ an zu spielen – und liefern prompt den Beweis, dass Blues irre viel Spaß machen kann.
Tag zwei des Bluesfestivals am Vechtebad: Das Duo aus Frankreich steht als erstes auf der Bühne. Vor knapp einer Stunde noch hat es wie aus Eimern geschüttet, so mancher Bluesfreund ist auf dem Festivalgelände oder dem Campingplatz ordentlich nass geworden. Doch pünktlich zu den ersten Takten ist der Himmel wieder klar und die Sonne wärmt den feuchten Rasen. Und so ist bei den Bluesfreunden von trüber Stimmung nix zu merken: Die Picknickdecken sind schon wieder ausgebreitet, die bunten Schirme aufgespannt, und die ersten tanzen schon wieder mit nackten Füßen vor der Bühne.
Und die wippende, summende, klatschende Menge wird von Minute zu Minute größer. Denn der Opener überrascht. Die Mountain Men liefern Country Blues vom Allerfeinsten. Bei Mathieu Guillon ist schwer zu sagen, was mehr unter die Haut geht – wie gefühlvoll er die Saiten seiner Akustikgitarre zupft oder sein kraftvoller Gesang. Und Iano Giddey, ja, der liefert eine ganz eigene Show ab. Mimik und Gestik erinnern an einen Pantomimen, mal lässt er seine Mundharmonika im Ärmel verschwinden, mal dreht er sich wie ein Derwisch im Kreis, mal erstarrt er urplötzlich. Man kann kaum wegschauen, auch nicht, als die Künstler bei einer schwermütigen Ballade dazu auffordern, die Augen zu schließen. Und das sollte erst der Einstieg des Nachmittags sein? Wow!
Mit Lisa Doby geht‘s dann recht entspannt weiter. Sie besingt die ganz großen Gefühle (Liebe, Sehnsucht und Herzschmerz) und die noch größeren Probleme der Welt (Klimawandel). Und das mit einer Inbrunst, die viele von ihren Campingstühlen reißt. Die Veranstalter haben in ihrem Flyer nicht zu viel versprochen: Ja, die Stimme dieser Frau ist gigantisch! Lässig geht‘s von einer Oktave zur anderen, und der Vergleich mit Whitney Houston ist nicht zu weit hergeholt.
Hart statt zart
Weniger zart, sogar ziemlich hart geht es schließlich bei der Mason Rack Band zur Sache. Die Australier haben es leicht, waren sie doch vor zwei Jahren schon in Schöppingen dabei. Viele im Publikum kennen ihren dreckig-schönen Bluesrock. Und so sichern sich schon in der Umbauphase einige Fans einen Platz in den ersten Reihen. Als die Musiker schließlich loslegen, ist die Stimmung von Anfang an ganz weit oben. Frontmann Mason Rack (was für eine kratzig-tiefe Stimme!) gibt sich publikumsnah, schlendert lässig in Jeans und Unterhemd über die Bühne, dreht mit seiner Handykamera ein Video der jubelnden Menge („Für meine Mutter!“) und lässt eine ahnungslose Fotografin seine Slide-Gitarre spielen. Er und seine Bandkollegen tauschen immer mal wieder untereinander die Instrumente – hier kann jedes alles –, bearbeiten Metallfässer und eine Trittleiter mit Schlagzeugstöcken oder werfen sich die Drumsticks gegenseitig zu, nicht ohne das Spiel zu unterbrechen. Kurzum: eine irre unterhaltsame Show.
Der Sonntag am Vechtebad: Die Mountain Men, Lisa Doby, die Mason Rack Band, Mike Zito & The Wheel und Joe Louis Walker auf der Bühne.
Die liefert auch Mike Zito ab. Vor drei Jahren war er schon einmal in Schöppingen, als Gitarrist von Ana Popovic. Jetzt ist er mit seiner eigenen Band gekommen – und das extra aus den USA und nur für diesen einen Auftritt, wie Richard Hölscher vom Kulturring stolz erklärt. Mit dabei hat Mike Zito zum Beispiel seinen Song „Pearl River“, den er zusammen mit Cyril Neville geschrieben und für den die beiden den Blues Music Award bekommen haben. Nicht ohne Grund.
Joe Louis Walker erklimmt schließlich als letzter an diesem Festivalwochenende die Bühne. Mit seiner Band präsentiert er hauptsächlich Titel aus seinem brandaktuellen Album „Hornets Nest“ – das im Anschluss so einige Male über den Merchandise-Tisch gegangen sein dürfte. Bei seiner brillanten Interpretation von Jesse Stones „Don‘t let go“ gehen schließlich auch die Musiker von Mr. Sipp, die am Vorabend aufgetreten sind und nun im Graben vor der Bühne hocken, voll mit. „I liked that!“, ruft der Bassist der Bluesgröße anerkennend zu – und fasst so nicht nur einen Song, sondern auch einen fantastischen zweiten Festivaltag treffend zusammen.
Quelle: Westfälische Nachrichten - Anne Alichmann